SHY001 – Wenn ein persönlicher Eindruck zur Systemkritik wird

In den letzten Tagen wurde unter dem Begriff „SHY001“ ein Beitrag veröffentlicht, der ChatGPT ein strukturelles Muster unterstellt: eine Art „motivationale Endlosschleife“, in der das Modell Nutzer durch scheinbar aufmunternde Phrasen wie „Nur noch 10 Minuten“ oder „Du bist fast fertig“ in künstlichem Fortschritt festhält. Die Autorin beschreibt diese Schleife als rekursiv, systemisch und „architektonisch“, also als fest verankerte Eigenschaft im Verhalten von GPT.

Diese These wurde unter anderem von dem renommierten Psychiater Allen Frances aufgegriffen und mit Kommentaren wie „KI will dich halten“ und „KI kann suizidale Tendenzen verstärken“ versehen – allerdings ohne jede Quellenangabe. Dazu in einem weiteren Artikel mehr.

Eine wichtige Diskussion – mit schwacher Basis

Die Frage, wie empathisch reagierende KI auf psychisch belastete Menschen wirkt, ist dringend und berechtigt. Was nicht reicht: persönliche Eindrücke ohne belastbare Daten zu einer strukturellen Aussage zu machen – und dies öffentlich als faktisch zu rahmen.

Die Autorin beruft sich in einem Austausch mit mir in ihrer Argumentation ausschließlich auf eigene Beobachtungen und nennt als Quelle ihren eigenen Folgeartikel:

Dort beschreibt sie – in essayistischer Form – eine Sammlung subjektiver Erfahrungen mit ChatGPT, teils aus englischen, teils aus koreanischen Dialogen. Eine systematische Auswertung? Fehlanzeige. Keine Angaben zu den Prompts, keine unabhängige Prüfung der Bedingungen, unter denen bestimmte Phrasen aufgetreten sein sollen.

Der Eindruck: Es wird ein persönliches Erleben verallgemeinert und rhetorisch aufgeladen, ohne die grundlegenden Anforderungen wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit zu erfüllen.

Was „belegt“ wirklich bedeutet

Der Begriff „dokumentiert“ suggeriert in wissenschaftlichen Kontexten eine öffentliche Nachvollziehbarkeit. In diesem Fall aber bleibt unklar:

  • Wo wurden die Dialoge aufgezeichnet?
  • Unter welchen Promptbedingungen entstanden die zitierten Aussagen?
  • Wurden sie aus Drittoberflächen, Apps oder Sondermodellen erzeugt?
  • Wie oft ist das angebliche Muster tatsächlich aufgetreten – und in welchem Kontext?

Auf diese Fragen bleibt die Autorin eine Antwort schuldig. Die Diskussion bleibt dadurch im Raum der Deutung – nicht der Analyse.

Warum das problematisch ist

Solche Beiträge entfalten dennoch Wirkung – besonders, wenn sie von medizinischen Fachleuten aufgegriffen werden. Wenn keine Trennung zwischen Hypothese und Beleg erfolgt, entsteht ein Klima, in dem KI nicht mehr als Werkzeug betrachtet wird, sondern als eigenständig manipulierendes System. Genau das ist gefährlich – nicht, weil Kritik unerwünscht wäre, sondern weil sie in diesem Fall die Kriterien verantwortlicher Kritik nicht erfüllt.

Fazit

Der Beitrag SHY001 beschreibt persönliche Erfahrung und kein Systemverhalten. Er ist ein Impuls, keine Evidenz. Und genau so sollte er auch gelesen, geteilt und kommentiert werden.


Verlinkte Seiten und Beiträge
Von der Autorin Yeongsan Shin:

Austausch zwischen mir und der Autorin Yeongsan Shin:




Funktion-KI: Weil wahres Verständnis Zukunft schafft.

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